Aufsagen einer Zahlenreihe heißt noch lange nicht Verstehen, was das eigentlich bedeutet
„Was ist eigentlich eine Zahl?“ Es gibt kaum etwas, womit man einen Mathematiker so leicht in Verlegenheit bringen kann, wie mit dieser simplen Frage
Albrecht Beutelspacher, Zahlen, München 2013
Wenn ein Mathematikprofessor so etwas sagt, kann einen das schon zum Nachdenken bringen.
Wie gehen wir denn mit Zahlen um? Wie bringen wir sie unseren Schülern nahe?
So gut wie alle Kinder können beim Schuleintritt eine Zahlenreihe aufsagen, bis 10, bis 20, manche sogar bis 100.
Aber was heißt das schon?
Das ist zunächst einmal eine Gedächtnisleistung.
Um die Zahlen wirklich mit Bedeutung zu erfüllen, genügt es nicht, den Kindern Zahlenbilder zu zeigen.
Da müssen wir uns schon selbst erst einmal einige Gedanken zu dem ganzen Thema machen.
Und da ist es sinnvoll, der Frage nachzugehen, wie denn das überhaupt kam mit den Zahlen.
Denn die waren ja nicht von Anfang an da, sondern es dauerte sehr lange, bis die Menschen in der Lage waren, etwas so Abstraktes zu fassen und dafür Begriffe zu finden.
Jeder Lehrerin sollte bewusst sein, dass Kinder im Heranwachsen quasi im Schnelldurchgang die menschliche Entwicklungsgeschichte durchlaufen, also schauen wir doch einmal, in welcher Gedankenwelt sich Menschen vor langer Zeit bewegten.
Sie waren gewiss nicht in der zweidimensionalen Papierwelt des schulischen Lernens zu Hause, sondern in der konkreten, dreidimensionalen Welt. Und genau daher kommen auch unsere Kinder, wenn sie eingeschult werden.
Was war vor den Zahlen?
Sogenannte „primitive“ Völker in Afrika, Amerika und Ozeanien verfügten noch im letzten Jahrhundert lediglich über die Begriffe eins, zwei und viele. Manche konnten auch noch die Mengen drei (als zwei-eins) und vier (als zwei-zwei) bezeichnen. Darüber hinaus aber verwirrte sich alles (Georges Ifrah, Universalgeschichte der Zahlen, S.23-26, 1993, Frankfurt am Main).
Mengen bestimmen, ohne zu zählen
Nun wurden aber auch bereits vor tausenden von Jahren Mengen bestimmt: Hirten überprüften die Vollständigkeit ihrer Herden, Händler verschafften sich einen Überblick über ihre Waren, Bauern führten Buch über ihre Ernten.
Für Aufzeichnungen wurden Kerben in Knochen oder Holzstücke geritzt.
Nehmen wir zum Beispiel einen Hirten, der vor 3000 Jahren eine Ziegenherde auf die Weide treibt, der Einfachheit halber nur eine kleine Herde.
Er verfügt nicht über die Zahlwörter, um seine Herde zu zählen, er verfügt auch gar nicht über das Abstraktionsvermögen, um in gedachten Einheiten, wie es die Zahlwörter ja sind, seine Herde zu erfassen.
Er braucht etwas Konkretes.
Er nimmt für jede Ziege, die er aus dem Stall lässt, einen Stein und legt ihn neben der Türe ab:
Dann geht er mit seinen Tieren auf die Weide.
Wenn er am Abend zurückkommt, nimmt er für jede Ziege, die in den Stall geht, einen Stein weg.
Sollte dann zum Schluss ein Stein übrig bleiben, würde das bedeuten, dass eine Ziege zuwenig von der Weide zurück gekehrt ist.
Unser Hirte hat die Menge seiner Ziegen nicht abgezählt, er hat eine Repräsentanz dieser Menge durch die abgelegten Steine geschaffen und in einer Eins-zu-Eins-Zuordnung überprüft, ob die Menge gleich geblieben ist.
Vom rudimentären Zahlensinn zur Exaktheit – alles beginnt mit dem Zählen
Darüber kannst du in der Fortsetzung lesen!